Repräsentation
In der Abbildung der Realität ist das Quadrat unter den Bildformaten zumindest quantitativ in der Minderheit, auch wenn die Mittelformat-Kameras von Rolleiflex und Hasselblad dem Quadrat bereits ab den 1930ern in der Durchsetzung der Fotografie als Kunstform Vorschub geleistet haben.
Das Quadratformat hat in unserer Kultur tiefe Spuren hinterlassen, die in künstlerischer Umsetzung jedoch immer Nischen blieben: Die Cover von Langspielplatten und CDs waren außen Quadrat und innen Kreisform. Die quadratischen Sofortbilder von Polaroid, später dann Instagram mit dem quadratischen Bildzuschnitt im Feed. Das Querformat jedoch dominiert die Fotografie und mehr noch den Film. Hoch- und Querformat sind immer noch quasi Paradigmen der Bildenden Kunst, auch wenn quadratische Leinwände scheinbar stetig an Absatz zulegen.
Um so interessanter ist es, sich den Übergang vom Rechteck zum Quadrat vor dem geistigen Auge vorzustellen - wie einen Kurzfilm. Es gibt zwei Gedankenspiele, wie der Übergang ablaufen könnte, Beschnitt und Kompression. Das beschnittene Rechteck scheint dabei die am weitesten verbreitete Vorstellung, mehr zur Idee der Kompression an späterer Stelle.
Nehmen Sie ein rechteckiges Bild und schneiden Sie mit Cutter und Stahllineal links und rechts zwei senkrechte Streifen ab, so dass das verbleibende Bild ein Quadrat wird. Das geht natürlich auch in Photoshop, aber die haptische Variante ist eindrücklicher, weil es keine Undo-Taste gibt und keine digitale Entsorgung. Da bleiben zwei Bildstreifen auf der Schneidematte liegen, die zuvor Teil des Bildes waren.
Wer sich dem Quadrat mit dieser den Verlust betonenden Sicht nähert, scheint dazu zu neigen, die kompositorischen Regeln des Rechtecks auf das Quadrat zu übertragen. Da mangelt es aber an Fläche, die das Motiv emotional einbettet, da gibt es keine narrativen Linien, keine Entfernungen, die dem Bild innere Spannung, der Komposition Dynamik geben.
"Quadrat ist langweilig ... ist alles so eng im Quadrat" oder akademischer notiert "Das Quadrat ist das am schwierigsten zu beherrschende Bildformat". Im Kinofilm dann, wo der Kontrast zum episch breiten CinemaScope besonders drastisch wirkt: "ein klaustrophobisches Bildformat". Selbstverständlich sind diese Empfindungen berechtigt, vereinzelt wird das Quadrat sogar eingesetzt, um sie genau so hervorzurufen. Für mich sind diese Kommentare ein weiterer Beleg dafür, dass die gestalterische Landkarte des Quadrates noch weiße Flecken hat, die neugierige Forscher*innen locken sollten.
Der größte Unterschied in der Bildkomposition dürfte beim Quadrat der Mangel an begleitender Fläche (synonym zu Farbmasse, Leerfläche, Hintergrund) sein. Die Frage, ob die konstruktiv oder mathematisch korrekte Anwendung des goldenen Schnittes oder der Fibonacci Spirale im Quadrat deshalb überhaupt möglich ist, empfinde ich als zu intellektualisiert, die Meinungen dazu scheinen auch gespalten. Gänzlich pragmatisch für die tägliche Praxis im Quadrat hat es ein Berufsfotograf im Gespräch formuliert: „Das Motiv ein wenig aus der Mitte nehmen“.
Zweifelsfrei ist jedoch, dass Rechteckformate durch ihre Begleitfläche in ihrer semantischen Vorprägung und ihrem gestalterischen Vokabular autarker, in sich geschlossener sind als das Quadrat. Bereits leere Leinwände, besonders im Querformat verfügen über Stabilität, vermitteln Sicherheit. Leere Quadrate dagegen ziehen in die Formatmitte und verweigern jede Form von Orientierung. In einem leeren Quadrat kann alles passieren. Das mag manche Naturen elektrisieren, anderen bereitet der Gedanke Unbehagen.
Versteht man die lange Horizontale im rechteckigen Querformat als Zeitlinie und die Begleitfläche als Nahrung für das Narrativ, wird verständlich, dass das Quadrat hier tatsächlich einen Mangel leidet, aber dafür durch sein Streben in die Mitte vollkommen im Hier und Jetzt steht. Es scheint wie geschaffen für den Augenblick des Betrachtens.
Ein weiteres Modell, dass sich mehr an konstruktive Regeln der Bildkomposition anlehnt ist, dass im Quadrat virtuell beide Rechteckformate enthalten sind. Das Querformat, im englischen Sprachraum „Landscape“ genau so, wie das Hochformat als „Portrait“. Im Quadrat sind in Umsetzung dieses Gedankens Intimität und Nähe tatsächlich intensiver darstellbar als in beiden Rechteckformaten. Wenn umgekehrt Distanz zwischen Protagonisten das Thema ist, dann wird das quadratische Bildformat gegen das Narrativ arbeiten.
Einschub: Die Frage welchen Einfluss die stetige Zunahme von hochformatigen Smartphone-Videos haben wird, ist in diesem Gedankenspiel durchaus relevant. Wenn Quer- und Hochformat in den digitalen Medien einer nicht all zu weit entfernten Zukunft gleichwertig koexistieren, könnte dem Quadrat kulturell, gestalterisch und technologisch eine Vermittlerrolle zukommen, die heute noch kaum angedacht wird. Womöglich sind derartige Überlegungen hinter den Kulissen mancher Digital-Eisberge wie TikTok auch schon weiter fortgeschritten, als ich es mir vorstellen kann. Wobei sich für mich als Künstler sofort die Frage stellt, ob die Bildende Kunst es grundsätzlich (und erst recht in Zeiten multipler Krisen und disruptiver Veränderung) zulassen darf, die Formulierung und Ausprägung einer neuen visuellen Kultur auschließlich opportunistischen, weil kommerziell orientierten Interessen zu überlassen.
Zurück zu Nähe und Distanz: Ein sehr eindrückliches Beispiel für emotionale Nähe im quadratischen Bildformat kommt interessanterweise nicht aus der Fotografie, wo ich es zuerst erwartet hätte, sondern aus dem Film: "Mommy" von Xavier Dolan ist der erste Spielfilm, der im 1:1 Format gedreht wurde (2014). Der Regisseur nennt das Quadrat ein „bescheidenes und privates“ Format. Da mein Wortschatz von der Bildkomposition geprägt ist, empfinde ich beide Adjektive als Bereicherung für den Versuch, die Persönlichkeit des Quadrates in Worte zu fassen.
Den in der Fachpresse kolportierten Verdacht, Dolan hätte seine Figuren im quadratischen Format einengen und ihnen damit Handlungsspielraum nehmen wollen, lehnte er im Interview ab: „Ich wollte nur ein Porträt-Seitenverhältnis aufnehmen, das es mir ermöglicht, den Charakteren sehr nahe zu sein, Ablenkungen links und rechts vom Bild zu vermeiden und das Publikum den Charakteren direkt in die Augen sehen zu lassen“.
https://www.hollywoodreporter.com/movies/movie-news/why-xavier-dolans-mommy-was-756857/
Um beim Film zu bleiben, die Produktion „Homecoming“ von Sam Esmail ist gleich in mehrfacher Hinsicht außergewöhnlich: Die Geschichte basiert nicht auf einem Buch oder Drehbuch, sondern auf einem fiktiven Podcast, der bei seiner Veröffentlichung im Jahr 2016 große Resonanz fand. Weiters ist Homecoming kein Spielfilm mit klassisch kinogerechter Länge, sondern eine für Amazon Prime Video produzierte mehrteilige Serie. Schlussendlich wird eine der beiden Zeitebenen des Plots erstmalig im Film durch ein quadratisches Filmformat symbolisiert.
Ich kann mir vorstellen, dass die Zielmedien TV und mobile Endgeräte, also kleine Bildschirmgrößen wie sie für den Streamingkonsum dominant sind, die Entscheidung für das quadratische Format begünstigt haben. Die schwarzen Balken hätten in der Dimension einer Kinoleinwand durchaus unsensibel wirken können. Der Kameramann der Serie, Tod Campbell begründete die Entscheidung für das Quadrat damit, dass der Protagonistin in der zukünftigen Zeitebene durch eine Amnesie Teile ihrer Erinnerung fehlen. So wie die schwarzen Ränder des Bildschirms, wenn der Film in das 1:1 Filmformat schneidet. Ich erinnere schmunzelnd an die verlustbetonte Sicht des beschnittenen Rechtecks.
https://deadline.com/2019/06/homecoming-cinematographer-tod-campbell-sam-esmail-emmys-1202622903/
Aufgefallen ist mir in der Kameraführung von Homecoming der zwar deutliche aber dennoch "wohltemperierte" Einsatz der Bildsymmetrie, die im Quadrat grundsätzlich sehr viel mehr Kraft entfaltet als in rechteckigen Bildformaten und entsprechend vorsichtig gehandhabt werden muss. In der abbildenden Fotografie ist das übermäßige Nachgeben auf die inhärente Symetrie des Quadrates ein Effekt, der sich meines Erachtens sehr schnell verbraucht, während die abstrahierende Fotografie und mehr noch die ungegenständliche Malerei von der geometrischen Selbstreferentialität des Quadrates sehr wohl profitieren.